Schuldgefühle
„Merke - der Ton macht die Musik -und das Zusammenleben auch!" predigte schon Tante Ulrike immer, wenn jemand unerwartet unwirsch war. Oder unerwartet charmant. Tante Ulrike irrte oft in ihrem Leben, aber ihre ollen Sprüche haben ewigen Wert. Ein Beispiel. Beim Bezahlen mit der Kreditkarte spüre ich sie schnell, diese kleinen, zunehmenden Schuldgefühle. Dann nämlich, wenn die Karte nicht sofort akzeptiert wird. Beim zweiten Versuch auch nicht. Auch bei der zweiten Kreditkarte: Nichts! Selbst wenn der Mensch auf der anderen Seite des Tresens geduldig bleibt und ich genau weiß, dass alle Konten gedeckt sind, nichts gesperrt ist: Da kommen sie trotzdem. Dasselbe beim Checkin in Flughäfen: Wenn der Schritt durch diese elektronische Kontrolltür von diesem Piepalarm begleitet wird, es gar mehrmals nacheinander piept, dreimal Taschen durchsucht werden, Socken, Schuhe, Innentaschen, die ich vorher gar nicht kannte - das bedrückt mein Seelenleben, weil ich so nah dran am Ganoven scheine. Bis kürzlich. In Tallinn/Estland machen sie es anders, ganz anders. Da piepte es bei einem vor mir zweimal und der guckte schon ähnlich verschämt um sich wie ich sonst. Da - da rief zehn Meter seitab dieses junge Weib, frisch aus dem Ei der letzten Kindheit geschlüpft und fröhlich in die Welt des Flughafens schauend. Sie rief mit wirklich reizender Stimme „Hallo“, „Hi“, „Here-please come here!" und winkte dem Passagier vor mir zu, lachte ihn an und freute sich, ihrer Arbeit mit dem elektronischen Checkgerät zu beginnen, strich über seine Beine, innen, außen, kraulte seinen Schultergürtel damit, schlupfte in die Innenseiten der Jacke. Und lachte mit dem eben noch Unglücklichen um die Wette. Bei jedem weiteren Lockruf der nordischen Schönen (diese blöden Blondinenwitze!) lachten die Wartenden und die, schon durch waren. Leider, leider bestand ich diesmal sofort und durfte nicht zu dieser reizenden Nachkontrolle. Ich werde diese Kolumne an die Lufthansa schicken, damit die nur solch lockrufende Kontrolleure anstellt. Dann würde ich mir die Taschen voll Metall und anderem Verbotenen vollpacken. Und nachts träumen von und Vorfreuen auf solche Kontrollen. Denn merke... Na, Sie wissen schon, was Tante Ulrike predigte.
20. Mai 2003